Die Hüterin der Gewürze

Kuh Tabu in Mayas Zauberbann

19.30 Uhr. Der Sekt sprudelt bereits in den Gläsern der 60 Neugierigen, die sich hier in der Lobby des Marriott-Hotels beim Stehempfang tummeln. Schnabulieren, gut. Aber eigentlich geht es vielmehr ums Fabulieren heute. Und selbst wenn der Schaumwein verkostet wird in der "Piazza", wie dieser Bereich romanesk heißt: Nix Italiano hier. Dass vor acht in den Schiller-Saal gebeten wird, weist eher den Weg. Es riecht nach Literatur.

"Ich hoffe, sie haben einen guten Geschmackssinn mitgebracht", begrüßt Marketingleiter Alexander Tann die Gäste an den acht fein gedeckten Tischen. Im heimeligen Schein von flackernden Teelichtern zeigen sich Sternanis, Ingwer und getrocknete Chilischoten als Deko locker auf den Tischdecken verteilt. Spanisch kommt einem das nicht gerade vor, eher so asiatisch.Fenchelcremesuppe mit Ingwer und Riesengarnele auf Zitronengras, Schweine-Medaillons auf Mango-Chutneysauce und Mohnparfait an Waldbeerenkompott verspricht die Menükarte. Silke Friedrich, Mitarbeiterin der Celebrationz Veranstaltungsagentur, die den Abend organisiert und bei der Speisekarte die Richtlinien für die Hotelküchevorgegeben hat: "Bei Rindfleisch hätten wir ein Veto eingelegt."

Kuhessen tabu plus asiatische Tendenz?

Den Braten richtig geraten: Indien ist insgesamt federführend. Was wortwörtlich genommen werden darf. Bei diesem elften Literarischen Dinner, wie alle vorherigen von den Celebrationz-Gründerinnen Heike Walter und Susanne Schwarz ausgetüftelt, steht vor und zwischen dem Dinieren das verlesene geschriebene Wort an erster Stelle.Noch bevor die aufgepiekste Garnele mit der Suppe serviert wird, gibt Moderatorin Vera Zingsem vom Hauptgang des Abends eine Kostprobe. "Die Hüterin der Gewürze", ein Roman der in Amerika lebenden Inderin Chitra Banerjee Divakaruni steht auf dem literarischen Speiseplan.

Vera Zingsem erweist sich dabei als echter Glücksfall.Denn meist erfährt man über das Buch nur soviel: Die Inderin Tilo betreibt in Oakland einen Gewürzladen. Kraft eines Aufenthalts auf der Insel der Alten Heilerin kann Tilo ihrer Kundschaft in die Herzen schauen und hat für jedes Wehwehchen das passende Gewürz parat. In Konflikte gerät Tilo, als der Amerikaner Raven ihren Laden betritt. Denn der Gewürzguru-Kodex schreibt vor, dass nur Inder bedient werden.

Das Universum lebt

Vera Zingsem, studierte Theologin, Mythenforscherin und Kennerin indischen Geisteslebens schält indes heraus, welch tief hinduistischen Kernmotive dieses Buch bestimmen. Erstens Karma: Jeder wird mit seinem Schicksal geboren, veranwortlich ist jeder selbst, darf ergo Verantwortung nicht abwälzen. Zum Zweiten der Zweifel an einer objektiven Realität. Alles nur ein Traum, vielleicht. Zingsem weiß auch, warum die Gewürze in diesem Roman wie handelnde Personen agieren. Im Hinduismus gilt das gesamte Universum als lebendig.

Mittlerweile zeigen die realen Gewürze ihre erste Wirkung. Die Fenchel-Ingwer-Suppe lässt die Geschmacks-knopsen explodieren. Aus allen Saalecken tönt Lob, lebhaft. Ingwer beschleunigtträge dahinfließendes Blut, heißt es dazu im Gewürzroman, der zu Fenchel meint, dieser sei für Leute in mittleren Jahren mit Mündern, die herabgezogen werden durch das Gewicht derdurchschnittlichen Leben. Hängt hier irgendwem noch der Mund runter?Iwo. Echt überdurchschnittlich, diese Suppe.

Vera Zingsem erläutert vor Leserunde zwei das literarische Programmder indischen Autorin. Konflikte zwischen West- und Ostkultur seien für Divakarunis Schreiben bestimmend. Konflikte, die auch bei Menügang zwei aufbrechen. Ein Gast meint  zum Mango-Chutney, das hätte "intensiver", mit mehr Feuer sein dürfen. Östlicher eben. Es hätte als Sauce mehr sein dürfen, sagen andere. Westlich-Schwäbischer eben.

Eben da lautet die Einsicht des Romans: Egal ob Ost ob West, Regeln sind zum Überschreiten da. So lässt sich Tilo regelwidrig mit dem Amerikaner ein, pfeffert ein Glas mit Chilis ins Meer und löst damit ein Erdbeben aus. Das Romanende aber ist versöhnlich. Typisch auf amerikanische Happy-End-Bedürfnisse hinfrisiert, kritisiert Heike Walter den Schluss beim finalen Mohnparfait. Stimmt nicht, kontert Vera Zingsem. Auch das Ende spiegle zutiefst hinduistisches Denken wider. Dass Tilo etwa mit ihrem Chiliwurf die Schuld für das Erdbeben auf sich nehme, entspreche exakt der Karma-Anschauung.

Tilo heißt am Ende Maya, was soviel wie Zauberbann und Illusion bedeutet. Die geschätzte Uhrzeit ist nun 22 Uhr, der Uhrencheck ergibt indes Viertel vor Mitternacht. Heilige Maya, steh mir bei! Alles nur Traum und Illusion? Nein. Nüchtern-westlichbilanziert: Literaturabende können ungemein kurzweilig sein.